Das Christentum und die Gewaltfrage

Das Christentum und die Gewaltfrage

Im Jahr 2020 diskutieren Vertreter der russisch-orthodoxen, ob die Segnung von Atomwaffen abgeschafft werden soll. Auf der anderen Seite des Atlantiks wurden 1945 die Bomber von Hiroshima und Nagasaki mit segnenden Gebeten bedacht. Kurze Zeit zuvor hatten die Amerikaner einen Atomwaffenversuch mit dem Codenamen "Trinity", dem christlichen Gottesnamen, bezeichnet.  Wenn selbst Massenvernichtungswaffen und ihr Einsatz christlich legitimiert sein sollen, wie kann es dann überhaupt eine ernstzunehmende Trennlinie zwischen Christentum und Gewalt geben? Und dennoch steht Jesus Christus für Gewaltverzicht und für die Bereitschaft, lieber Gewalt zu erleiden als Gewalt auszuüben. Dabei war Jesus nicht nur sanft und nachgiebig. Die Evangelien berichten von kontroversen verbalen Auseinandersetzungen, und Jesus ließ die Händler im Tempel seinen Zorn spüren.

In den Evangelien erscheinen Feindesliebe und Gewaltverzicht als wesentliche Merkmale der christlichen Botschaft. Diese Linie setzt sich in Urchristentum und in den ersten Kirchenordnungen und Lehrschriften der christlichen Kirche fort. Als Beispiel hierfür gilt die "Didache" ("Zwölfapostellehre", um 100 n. Chr.). Bis zur konstantinischen Wende erscheint das Christentum als eine friedfertige Religion, die nach innen teilweise große Strenge kannte, aber Gewaltausübung ablehnte. In den Wellen der Christenverfolgungen leisteten Christen keinen wehrhaften Widerstand. Römische Soldaten, die zum Christentum übertraten, beendeten den Waffendienst. Die Anzahl dieser Kriegsdienstverweigerer stieg vom zweiten bis zum vierten Jahrhundert an. Im fünften Jahrhundert, als das Christentum zur Staatsreligion erklärt worden war, änderte sich langsam die Einstellung zur Gewaltfrage. Heiden erlitten Verfolgungen durch Christen. Sowohl im Westen wie im Osten benötigten die Kaiser Soldatenkontingente, zu denen auch Christen gehörten. Anfangs leisteten Christen nur in Friedenszeiten Soldatendienst, aber mit der Zeit übernahmen sie alle militärischen Aufgaben. Ein Vorzeichen der weiteren Entwicklung war es gewesen, dass Kaiser Konstantin seine Entscheidung für das Christentum im Kontext der Schlacht an der Milvischen Brücke 312 fällte. Nach der Darstellung des Eusebius von Caesarea soll Konstantin eine Lichterscheinung gehabt haben, die an das Christusmonogramm (XP) erinnert habe. Im Traum sei ihm daraufhin geweissagt worden, er werde in diesem Zeichen siegen. Konstantin soll daraufhin das Christusmonogramm als Feldzeichen verwendet haben. Insofern ist die Konstantinische Wende auch mit dem Thema Krieg verbunden.

Augustinus von Hippo (354-430) zählt zu den großen Theologen des ersten Jahrtausends. Seine Lehre vom gerechten Krieg übte starken Einfluss auf die Geschichte des Christentums aus. Augustinus  war Bischof im nordafrikanischen Hippo Regius. 410 plünderten die Westgoten Rom. Dieses Ereignis schockierte das gesamte Reich. Auch als Reaktion auf die Erfahrungen von 410 schrieb Augustinus die berühmten Bücher De Civitate Dei, in denen er sich mit Fragen der Herrschaft und des Krieges auseinandersetzte. Unter dem Vorzeichen einer als sündhaft bewerteten Welt hält Augustinus Gewaltanwendung des Staates sowie Krieg unter bestimmten Voraussetzungen für gerechtfertigt. Hierfür müssen inhaltliche und formale Voraussetzungen erfüllt sein, beispielsweise die Anordnung durch eine legitimierte Autorität, die Verhinderung eines größeren Schadens für den Staat sowie die Zielsetzung der langfristigen Friedenssicherung. In der Spätphase seines Wirkens formulierte Augustinus die Bereitschaft, gegen die Sekte der Donatisten notfalls mit Gewalt vorzugehen. Man sollte dabei berücksichtigen, dass die Donatisten ihrerseits Gewalt gegen Kirchenvertreter ausgeübt hatten und auch Augustinus angegriffen hatten. Die Stellungnahme des Bischofs von Hippo blieb wirkungsgeschichtlich aber nicht auf diesen konkreten Fall begrenzt, sondern wurde später u.a. zur Rechtfertigung von Ketzergesetzen verwendet. Im hohen Mittelalter entwickelte vor allem der Kirchenrechtler Gratian die Lehre vom gerechten Krieg weiter.

Obwohl sowohl im Weströmischen wie im Oströmischen Reich Christen Soldatendienst ausübten, entwickelte sich die die Kirche in beiden Reichsteilen lange Zeit friedensorientiert und weitgehend gewaltfrei. Aufgrund des "Symphoniemodells" (Unterordnung der Kirche unter den Staat in weltlichen Fragen) blieb es im Oströmischen Reich bei einem staatlichen Gewaltmonopol. Die Erosion staatlicher Strukturen im Westen und die spätere Beanspruchung weltlicher Macht durch die Kirche führten hier zu einer anderen Entwicklung.

Die Ausdehnung des Fränkischen Reiches unter Karl dem Großen (747/48-814) war mit Zwangschristianisierungen verbunden. Dies bedeutete allerdings nicht, dass die Mission in Europa vor allem mit dem Schwert erfolgte. Die wichtige iroschottische Mission beispielsweise bediente sich der Predigt. Vor allem die Kämpfe gegen die Araber, die Karl der Große in Spanien führte und später die Normannen in Süditalien und Sizilien, gaben der Kriegsführung eine religiöse Komponente, die schließlich mit Beginn der Kreuzzüge (1095) immer stärker zur Geltung kam.

Anfangs wurden die Kreuzzüge als Pilgerfahrten bezeichnet, was den militärischen Charakter nicht deutlich zum Ausdruck brachte, aber die Verbindung von Krieg und religiöser Legitimation anbahnte. Sowohl der erste Kreuzzug (1096-1099) als auch der zweite Kreuzzug (1147-1149) wurden von Judenpogromen eingeleitet, was die hohe Gewaltbereitschaft von Kreuzfahrern belegt. Nachfolgend wurden Kreuzzugsdoktrin und Ketzerdoktrin immer stärker radikalisiert. Kreuzzüge richteten sich auch gegen Abweichler in Europa (z. B. Albigenserkreuzzug 1209-1229) oder gegen den Kaiser (Aufruf gegen Friedrich II. 1245).

Hatte Augustinus noch um die Rechtfertigung von Gewalt gerungen, so legitimierte Bernhard von Clairvaux als Kreuzzugsprediger die Gewalt in umfänglicher Weise. In seinem Ritterlob (Liber ad milites templi de laude novae militiae III,4) sagt er: "Ein Ritter Christi, sage ich, tötet mit gutem Gewissen, noch ruhiger stirbt er. Wenn er stirbt, nützt er sich selber, wenn er tötet, nützt er Christus." (zitiert nach www.kathpedia.com/index.php/Liber_ad_milites_templi_de_laude_novae_militiae_(Wortlaut)).

Zur Rechtfertigung von Gewalt berief man sich auf verschiedene Bibelstellen, die aber teilweise willkürlich verwendet und radikal umgedeutet wurden. Ein solches Beispiel beschreibt Christoph Auffarth: "[Man] erwartete ... Hilfe vom Herrn der himmlischen Heerscharen, ... der eine Legion Engel schicken werde. Jesus verwendet den römischen Terminus im Schwertwort an Petrus: 'Stecke Dein Schwert in die Scheide! Denn wer das Schwert nimmt, der wird durch das Schwert umkommen. Glaubst Du, ich könnte nicht meinen Vater bitten, und er würde mir auf der Stelle mehr als zwölf Legionen Engel zur Verfügung stellen?' (Mt 26,52f.). Das Bild von den Engel-Soldaten wurde zu einem festen Bild mittelalterlicher Kampfbeschreibungen. Gleich in der ersten Schlacht auf kleinasiatischem Boden sollen die Kreuzfahrer erlebt haben, dass Engel ihr unterlegenes Heer auffüllten." (zitiert nach M. Braun, C. Herberichs (Hrsg.), Gewalt im Mittelalter, München 2005, S. 259). Diente das Jesuswort Mt 26,52f. jahrhundertelang als Aufforderung zum Gewaltverzicht, wurde es hier zum Gewaltaufruf umgedeutet.

Die Emanzipation der römisch-katholischen Kirche, vor allem des Papsttums, von weltlichen Mächten und der Ausbau eigener weltlicher Macht gingen einher mit einer religiösen Legitimierung von Gewalt und Krieg, losgelöst von einem etwaigen staatlichen Gewaltmonopol. Diese Entwicklung erreichte im hohen Mittelalter einen Höhepunkt, aber keineswegs ihren Abschluss, wie die Hexenprozesse der Neuzeit oder die Geschichte der Kolonialisierung zeigen. Leider fügt sich auch die Segnung von Waffen im Zeitalter der Massenvernichtungswaffen in diese Reihe ein.








Share by: