Rittertum

Rittertum

Das Rittertum zählt zu den faszinierendsten Phänomenen der europäischen Geschichte. Dies hat mit der Aura von Abenteuer, Heldentum und Edelmut zu tun, aber auch mit der Wirkung, die das Rittertum in gesellschaftlicher und pädagogischer Hinsicht erzielte. Ritterlichkeit gehörte über Jahrhunderte hinweg zu den großen gesellschaftlichen Idealen – und somit auch zu den pädagogischen Zielssetzungen. Es ging dabei um eine personalisierende und emotionalisierende Vermittlung tugendhafter Werte wie Tapferkeit, Ehre, Treue, Glaube, Ehrlichkeit, Selbstbeherrschung, Dienstbereitschaft, Großzügigkeit, Gerechtigkeit und anderer erstrebenswerter Eigenschaften, die sich in der Idealgestalt des Ritters kristallisierten. Die Wirkung des Ritterideals war so groß, dass selbst Könige und Kaiser der Ritterlichkeit nacheiferten und sich gerne ritterlicher Tugenden rühmen ließen. Ein besonders herausragendes Beispiel hierfür ist König Richard Löwenherz, dessen ritterliche Tapferkeit sogar bei seinen Feinden hohe Anerkennung fand. Sultan Saladin beispielsweise soll Richard während eines Kampfes vor Jaffa Ersatzpferde geschickt haben, nachdem er beobachtet hatte, dass Richards Pferd getötet worden war.

Entgegen gängiger Vorstellungen lässt sich der soziale Status des Rittertums nicht eindeutig greifen. Einen "Ritterstand" hat es bis in das hohe Mittelalter hinein wohl nicht gegeben. Joachim Bumke, einer der renommiertesten Forscher in diesem Feld, hält das Rittertum eher für eine Idee oder für ein Ideal als für einen festen sozialen Stand. Jedenfalls muss deutlich unterschieden werden zwischen dem realen Ritterleben und seinen literarischen Darstellungen in zahlreichen Epen. Viele Ritter waren Dienstmannen zum Zweck des Kriegsführung, andere wurden zunehmend als Ministeriale in Verwaltungstätigkeiten einbezogen. Der Adel orientierte sich an ritterlichen Idealen, aber nicht alle Ritter waren adlig. Dennoch bot das Rittertum eine Chance gesellschaftlichen Aufstiegs und eröffnete gewisse individuelle Entwicklungsmöglichkeiten - wozu allerdings auch das Risiko sozialen Abstiegs gehörte. Standeszugehörigkeit wurde zwar mit der Geburt weitergegeben, dennoch galt es, nach außen hin sichtbar zu machen, dass man einen bestimmten gesellschaftlichen Rang beanspruchte, und dafür auch Anerkennung zu erfahren. Diese Herausforderung verband sich oftmals mit den ritterlichen Untugenden der Maßlosigkeit und Selbstdarstellung. Auch hierfür bietet Richard Löwenherz als ritterlicher König ein anschauliches Beispiel. Bei der Eroberung der Festungsstadt Akkon im Sommer 1191 ließ Richard das Banner des verbündeten Herzogs von Österreich in einen Graben werfen, um dessen Beuteansprüche auszuschalten und die eigenen Leistungen bei der Eroberung herauszustellen. Diese Demütigung musste der englische König teuer bezahlen. Auf der Rückreise in die Heimat ließ ihn der Herzog von Österreich verhaften. Über ein Jahr verbrachte Richard Löwenherz in Gefangenschaft und wurde erst nach einer hohen Lösegeldzahlung wieder freigelassen.

Ritterliche Freiheit hat etwas Archaisches und Eigenmächtiges. Unerbittlich führten Ritter Fehden gegeneinander, wenn sie sich in ihrer Ehre oder in ihren Rechten verletzt sahen. Weder Herrscher noch Päpste konnten dieses Verhalten wirksam zügeln. Sogar im 19. Jahrhundert waren bei Ehrverletzungen noch – verbotene – Duelle üblich, die auf einer archaisch anmutenden Eigenmächtigkeit beruhten. Zweikämpfe und Turnierkämpfe mit Selbstdarstellern finden heute noch auf Schulhöfen und in Sportstadien statt, sie sind aber nicht mehr repräsentativ, stellen eher eine Unterbrechung des alltäglichen gesellschaftlichen Lebens dar. Die Übertreibungen ritterlicher Freiheit und Eigenmächtigkeit waren früher am besten zu zähmen, wenn sich Ritter in den Dienst einer großen Sache stellten. Dazu boten die Kreuzzüge scheinbar ideale Bedingungen. Viele Ritter entwickelten beim Zug ins Heilige Land höchste Aufopferungsbereitschaft. Die religiöse Weihe solcher Ritterzüge gipfelte in der Gründung von Ritterorden, die die militärische Tradition des Rittertums mit der klösterlichen Lebensweise des Mönchtums verbanden. In diesem Zusammenhang dürfte die ritterliche Kultur ihren Höhepunkt, aber auch ihren Wendepunkt erreicht haben. Selbstbestimmung und Selbstdarstellung des Ritters waren durch die Ordensregeln aufgehoben. In den Kreuzzügen zeigten sich strategische und logistische Grenzen der kämpfenden Reiter. Ihr religiöses Ideal wurde aufgrund zahlloser Entgleisungen der in sich fragwürdigen Kreuzzugsbewegung einem selbstzerstörerischen Prozess ausgesetzt.

Obwohl das Rittertum das Mittelalter überdauerte, ging die Blüte des Rittertums mit dem Ausklang des hohen Mittelalters ihrem Ende entgegen. Wappen und Ausrüstungen verfeinerten sich weiter, aber neue Wehrtechniken, inbesondere die Verbreitung der Kanonen, ließen ihre militärische Bedeutung verblassen. Auch wandelten sich die gesellschaftlichen Wertvorstellungen. Im 15. Jahrhundert warnte man vor Ritter- und Alexanderromanen, welche im hohen Mittelalter äußert beliebt gewesen waren und auch für erzieherische Zwecke eingesetzt worden waren.

Im Nachwort seines Romans "Die Jüdin von Toledo" schrieb Lion Feuchtwanger 1955: "Zwei Pfeiler sind es, pflegt man zu sagen, auf denen unsere Zivilisation steht: das humanistische Bildungsideal der Griechen und Römer und der jüdisch-christliche Moralkodex der Bibel. Mir scheint, es lebt in unserer Zivilisation ein drittes Erbe fort: die Ehrfurcht vor dem Heldentum, dem Rittertum. Das liebevoll ehrfürchtige Bild des christlichen Ritters, wie das Mittelalter es malte, ist noch keineswegs verblasst." Diese Worte wirken vielleicht etwas pathetisch und beziehen sich nicht nur auf historische Fakten, sondern auch auf die Konstruktion eines Ritterbildes, das im mittelalterlichen Alltag nicht jeder Überprüfung standhalten könnte. Aber Feuchtwangers Worte reflektieren viel von den Idealen des Mittelalters selbst und wie diese Ideale die europäische Geschichte beeinflusst haben.


Leseempfehlung: Karl-Heinz Göttert, Die Ritter, Leipzig 2011; Werner Meyer, Ritterturniere im Mittelalter, Mainz 2017






Share by: