Warum sich mit dem Mittelalter befassen?

Warum sollten sich junge Menschen mit dem Mittelalter befassen?

Richard Löwenherz war vielleicht der erfolgreichste, jedenfalls der ruhmvollste Kreuzritter aller Zeiten – und zugleich einer der tragischsten. Löwenherz hätte 1192 Jerusalem einnehmen können und damit das Ideal der Kreuzzüge erfüllt. Aber er war erschöpft und hatte keine hinreichenden Informationen über die Schwäche seines Feindes – eines ebenfalls müde gewordenen Saladin, der die meisten seiner Truppen hatte beurlauben müssen. Auf dem Rückweg nach England erlitt Richard Löwenherz Schiffbruch. Er versuchte, incognito durch das christliche Herzogtum Österreich, dessen Führer er bei der Eroberung Akkons 1191 gedemütigt hatte, zu reisen, wurde aber gefangen genommen und schließlich Kaiser Heinrich VI. überstellt, welcher die Situation ausnutzte, um England zu einem kaiserlichen Lehen zu erklären und mit dem hohen Lösegeld, das Richards Mutter für ihren Sohn zahlen ließ, das bedeutende Königreich Sizilien zu erobern. Mittelalterliche Geschichte wirkt oftmals verstörend. Manchen erscheint einzig das Streben nach Macht als eine Konstante politischen Handelns, kompromisslos und grausam. Und doch ist diese Zeit zugleich kunstsinnig, tief religiös, spirituell, hingebungsvoll, bunt - und der Anfang unseres heutigen Europas.

Unser Verhältnis zur Geschichte erscheint zwiespältig. Wir sind stolz auf sie - Stichworte: Stammbaum, Tradition, Werthaltigkeit, Wurzeln, Identität, Bildung. Wir verachten sie aber auch in der Rückschau, denn wir sind überzeugt davon, dass die Geschichte als Entwicklungsprozess zu verstehen ist, bei welchem die jeweils neueste Zeit die beste sein sollte - Stichworte: Evolution, Erfindungen, Aufklärung, Technik, Fortschritt, Bildung. „Stillstand ist Rückschritt“ – ein Credo unseres Zeitalters. Und wir restrukturieren, regulieren, reformieren, implementieren, evaluieren, optimieren. Also letztlich: Geschichte? Gott sei Dank liegt sie hinter uns.

Im Umgang mit Geschichte können Menschen die Relativität von Weltbildern, Theorien, Selbstvergewisserungen erkennen. So, wie wir über das Mittelalter lächeln, wird man einst über uns lächeln, wenn wir einmal von gestern sind. Geschichte ist auch die Geschichte des Vorurteils. Das Mittelalter war finster. Finster, weil die Zeit danach besser war, weil vor allem wir heute besser sind, weil die Geschichte nach dem Gesetz des Fortschritts verläuft, linear, progressiv?

Im Umgang mit Geschichte können Menschen erkennen, wie relativ auch solche Vorstellungen sind. Wir konstruieren die Welt, in der wir leben, und die Vergangenheit, in der frühere Menschen lebten. Objektivität, Sachlichkeit, Beweisbarkeit sind Postulate. In Wirklichkeit versuchen wir oftmals, uns selbst zu bestätigen. Faust sagt es so: „Mein Freund, die Zeiten der Vergangenheit / Sind uns ein Buch mit sieben Siegeln. / Was ihr den Geist der Zeiten heißt, / Das ist im Grund der Herren eigner Geist, / In dem die Zeiten sich bespiegeln.“ (Goethe, Faust I, Szene „Nacht“, Vers 575-579). Auch ein junger Mensch kann erkennen, wo Konstruktionen ansetzen, wie diese sich ausprägen und dass es schwierig ist, eine historische Wahrheit als solche zu finden. Die berühmte Manessische Liederhandschrift beispielsweise gewährt uns Einblicke in die Welt des Rittertums und des Minnesangs. Jeder Laie erkennt die Idealisierung der Darstellung. Geht man einen Schritt weiter, erkennt man auch, dass diese Idealisierung sich nicht auf die Zeitgeschichte bezogen hat, sondern retrospektiv auf eine Welt blickt, die der Vergangenheit anheimfällt – eine doppelte Konstruktion also.

Der Blick in die Geschichte und in die Offenlegung der Konstruktion von Geschichte kann uns helfen zu verstehen, dass auch wir Heutigen unsere Wirklichkeit oftmals konstruieren und sie nicht einfach nur wahrnehmen. Dies gilt nicht nur für die historische, sondern auch für die biographische Dimension. Denn so real unsere Lebensgeschichte ist, wir konstruieren sie täglich neu in unserem Bewusstsein, und diese Konstruktion ändert sich fortwährend.

Das Mittelalter war finster. Aber wann und wo war das Mittelalter? 800 bis 1517? 476 bis 1550? Europa? Asien? Amerika? Und wie finster war es – zum Beispiel in den farbig-hellen französischen Kathedralen von Chartres, Amiens, Reims? Oder in den bruderkriegshaft-blutigen Kreuzzugsschlachten von Jerusalem, Konstantinopel, Messina? Und was fokussieren wir bei der Betrachtung der Geschichte? Politik, Macht, Alltag, Lebensstandard, Handel, Frauenrechte, Religion, Technik, Umweltschutz?

Es scheint fast unmöglich zu sein, Geschichte als solche wahrzunehmen. Stets ist ein subjektiver, konstruierender Zugriff mit im Spiel. Dies zu verstehen, ist ein Blick in unser Spiegelbild – in die Funktion unseres Gehirns, in die Bedürfnisse unserer selbst, in unser Ideal von Gegenwart und Zukunft.

Den „Ritter“, wie wir uns diesen vorstellen, hat es vielleicht nie gegeben. Was war eigentlich ein Turnier? Doch gewiss der Kampf zweier Ritter miteinander, hoch zu Ross, mit der Lanze gegeneinander anrennend und einer am Ende im Zweikampf triumphierend! – Nein! Turniere waren ursprünglich Kampfspiele mit vielen, möglichst vielen Beteiligten, eigentlich modellhafte Schlachten großer Waffenverbände. Der Zweikampf war nur eine von vielen Kampfmethoden. Erst im Laufe der Zeit entwickelte sich der Zweikampf zu einer hervorgehobenen Disziplin. Unsere gewöhnliche Vorstellung von einem mittelalterlichen Turnier ist also falsch, zumindest einseitig. Und so ist es mit vielem, das wir über das Mittelalter denken. Den Jahrhunderten zwischen Spätantike und Neuzeit gerecht zu werden, ist eines, die selbstkritische Erkenntnis eigener Denkmuster ein anderes.

Der Hohenstaufer-Kaiser Friedrich II. gilt als eine der bemerkenswertesten Persönlichkeiten des Mittelalters. Aber halt: einen Hohenstaufen hat er sich selbst nie genannt – woher kommt die Bezeichnung? Friedrich II., König von Sizilien, soll mit arabischen Jungen in Palermo aufgewachsen sein, seine Gegner bezeichneten ihn als „Sultan“, um ihn als Freund der Muslime zu schmähen. Aber halt: Friedrich II. beendete das arabische Leben auf Sizilien. Er verhaftete den letzten Emir, ließ ihn hinrichten und ordnete die Umsiedlung der letzten Muslime nach Festlanditalien an. Trotzdem war er einer der wenigen, die in der Zeit der Kreuzzüge versuchten, Jerusalem durch Verhandlungen, nicht durch Krieg zu gewinnen. Friedrich II. ist einer der wenigen Herrscher des Mittelalters, deren genaues Geburtsdatum wir kennen (26.12.1194). Wir kennen sogar die exakten Koordinaten des Geburtsortes, nämlich den Marktplatz der Stadt Jesi in der italienischen Region Marken: 43° 31′ N, 13° 14′ O. Aber seine Feinde behaupteten, er sei gar nicht der Sohn seiner kaiserlichen Eltern, sondern das Kind eines Fleischers oder Bäckers, dessen Geburt die unfruchtbare Mutter zum Schein während einer Reise auf einem Marktplatz inszeniert habe. Und obwohl wir heute vielleicht die DNA des Hohenstaufen-Herrschers analysieren könnten – denn seine Gebeine liegen im Dom zu Palermo neben den Gebeinen seiner Eltern –, wissen wir immer noch nicht sicher, wessen Kind er ist. Vielleicht ist auch das Geburtsdatum 26. Dezember nur eine Fiktion, um Friedrich in die Nähe Jesu Christi und dessen Geburtstag zu rücken.

Selbst der Begriff „Mittelalter“ ist nichts anderes als eine Konstruktion, wenn auch keine willkürliche, sondern eine in vieler Hinsicht sinnhafte. Aber irgendwann wird man die Epochendefinition neu fassen. Man wird ganz andere Aspekte betonen als die scheinbaren Konstanten eines Römischen Reiches, eines religiös-ideologisch geschlossenen Zeitalters, einer durch aufklärerische Emanzipation gekennzeichneten Moderne. Vielleicht wird man Geschichte strukturieren nach ökonomischen Gesichtspunkten oder nach der Dominanz von Ameisen und Bakterien, nach ökologischen Kriterien, nach dem Wetter, nach der Dominanz von Genen, nach dem interkulturellen Austausch, nach dem Verständnis von Geschlechtlichkeit, nach der Verbindlichkeit sozialer Standards.

Junge Menschen, die sich mit Geschichte befassen, werden konfrontiert mit völlig anderen Denkmodellen, Kulturen, Vorstellungwelten. Zwar befindet sich der Betrachter in der scheinbar sicheren Position einer hochentwickelten Aktualpräsenz, weit abgehoben von den Niederungen der Geschichte, aber dennoch kann einem die Grundbefindlichkeit des Menschen nahekommen, wie sie sich in der Geschichte zeigt. Wir können uns in unserer menschlichen Grundbefindlichkeit besser kennen lernen. Die Geschichte zeigt uns beispielsweise das Scheitern so vieler machtvoller Menschen, sie zeigt uns die Herausforderung, mit Ungerechtigkeit umzugehen, sie zeigt uns aber auch die wirkungsvollen Folgen mutiger und tatkräftiger Entscheidungen. Gerade die Geschichte der Staufer ist erfüllt von solchen Momenten. 

Der Ozean der Geschichte ist ein eigener, schwer ergründbarer Kosmos. Überall aber stoßen wir auf elementare Fragen und Gegebenheiten. Beispielsweise Multiperspektivität: die Erfolge Alexanders des Großen etwa aus griechisch-mazedonischer oder aus Hindukusch-Sicht (völlig gegensätzlich: göttlicher Gigant oder gigantischer Teufel); Karl der Große: Vater Europas oder Schlächter der Sachsen? Mauerfall: Befreiung oder Durchbruch westlich-kapitalistischer Hegemonie?

Auf dem Ozean der Geschichte sehen wir manchmal nur das Treibholz schwimmen, das bruchstückhafte Hinweise gibt auf eine früher existierende Kultur, auf einen Krieg oder eine große Liebe.

Ja, es ist für Jugendliche wertvoll, wenn sie nach Festigkeit und Identität suchen, die Relativität des Daseins zu veranschaulichen. Letztlich können sie lernen, sich selbst in der eigenen Relativität anzunehmen. Es ist wertvoll, wenn sich Kinder, die nach unbedingter Gerechtigkeit verlangen, mit der Relativität von Gerechtigkeitsvorstellungen befassen. Sie können lernen, ihre Vorstellung von Gerechtigkeit in anderen Kontexten gedanklich zu erproben. Es ist wertvoll, wenn Jugendliche sehen, dass Freiheit ein menschheitsgeschichtlich ebenso elementares wie seltenes Gut ist. Sie können lernen, die Freiheit mit umso mehr Leidenschaft zu verteidigen.

Das Salz im Ozean der Menschheitsgeschichte ist das Verlangen nach Macht. Im Mittelalter kann man dies besonders gut erkennen, ebenso detailreich wie holzschnittartig, aber natürlich auch in allen anderen Zeitaltern bis in die Gegenwart hinein. Scheinbar befreit von den Schatten des Mittelalters tobte von 1618 bis 1648 der Dreißigjährige Krieg in ebenso irrsinniger wie verheerender Weise – vordergründig ein Religionskrieg, vor allem aber ein absurder Kampf um Macht, Einfluss und Geld.

Die meisten Kriege der Menschheitsgeschichte resultieren aus Konflikten um Macht und Ehre. Aber das war vielleicht nicht immer so. Prähistoriker erklären uns: Die nomadischen Gesellschaften der frühen Menschheitsgeschichte waren kaum hierarchisch strukturiert, sondern vor allem kooperativ. Daher, so meint man belegen zu können, gab es damals viel seltener Machtkämpfe. Wenn wir aus dieser Zeit immer noch als Segen das genetische Erbe der Kooperation und Empathie-schaffender Spiegelneuronen in uns tragen, dann vielleicht auch den Fluch einer nomadischen Wanderschaft, die sich heute in Progressionsvorstellungen auswirkt und zum modernen Hamsterrad führt: Stillstand ist Rückschritt, der Weg ist das Ziel, Sinn = Fortschritt.

Sich mit Geschichte beschäftigen, ob in historischen oder biographischen Dimensionen, kann vielleicht auch helfen, Frieden zu schließen. Denn so vieles ist relativ in unserem Leben, und dies einzusehen, kann Frieden in uns schaffen. Macht ist nicht nur vergänglich, sondern von vornherein auf Illusion gebaut; dies zu erkennen, kann Frieden in uns bewirken.

Richard Löwenherz strebte danach, das Ideal des ritterlichen Königs zu erfüllen. Er wollte selbst für seine wagemutigsten Recken noch ein Vorbild an Tapferkeit und Ehre sein, er reizte dieses Verlangen bis zum Exzess aus. Dadurch wurde er zum tragischen Helden, der in seiner englischen Heimat sowohl erhöht als auch verflucht wurde. Aber halt – englische Heimat? Richard wuchs in Frankreich auf, nicht in England. Und genau genommen war es nicht das Königreich Frankreich, in dem er lange Zeit lebte, sondern das Herzogtum Aquitanien, das mit Frankreich in Konflikt lag. Geschichte kann so verwirrend sein! Sie klärt sich nur, wenn wir die Relativität des jeweiligen Standpunkts und auch unseres eigenen Standpunkts erkennen. Zur Selbsterkenntnis allerdings ist Geschichte von unschätzbarem Wert, und je früher wir dies erkennen, desto heilsamer kann sich die Beschäftigung mit Geschichte auswirken.

Benedikt Mancini

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